Vielleicht ist Ihnen in Bezug auf das innere Spurenlesen der Begriff der ‚Achtsamkeit‘ in den Sinn gekommen. Mit Achtsamkeit hat inneres Spurenlesen jedoch nichts zu tun. Warum, verrät das Wort “achtsam”. Es endet mit der Nachsilbe -sam und beschreibt damit, dass mit dem, was als ‚achtsam‘ bezeichnet wird, etwas gemacht werden kann: was ‚achtsam‘ ist, kann geachtet bzw. beachtet werden. Das ist zugegebenermaßen ganz gar wundervoll – hat aber mit autonomer Selbstregulation nichts zu tun. Wer versucht, ‚achtsam‘ zu sein, ist damit beschäftigt, sich durch alles Mögliche einschließlich seiner selbst Achtung (bzw. Be-Achtung) zu verschaffen, wobei der Fokus zumeist darauf liegt, es sich 2gut gehen zu lassen”. Auch das ist ganz gar wundervoll und überhaupt nicht verwerflich. Die autonomen Selbstregulationsfähigkeiten werden dadurch aber eher nicht berührt – und bleiben unterentwickelt, bzw. so beschaffen wie sie eben beschaffen sind.
Die Fähigkeit zu autonomer Selbstregulation ist der Schlüssel zu dem, was wir Glück nennen. Denn nur der, der keine Anstrengung mehr aufwenden und nichts mehr muss (auch keine Achtsamkeitsübungen), um sich ‚gut‘ oder auch nur ‚wohler‘ zu fühlen, kann wirklich frei über sein Leben verfügen – und nicht nur sein Überleben sicherstellen.
Gewahrsein vs. Achtsamkeit
Das, was inneres Spurenlesen trainiert und was tatsächlich die Basis autonomer Selbstregulation bildet, ist Gewahrsein. Gewahrsein bedeutet, dass eine Wahrnehmung von dem Wissen begleitet wird, dass man etwas für wahr nimmt – auch und gerade autonom, also ohne, dass man es beeinflussen könnte (Neurozeption). Wer schon einmal erlebt hat, dass er aus einer Mücke einen Elefanten gemacht und sich im Nachgang gefragt hat, warum bloß und zum Henker, hat ein Beispiel für das, was ist, wenn in einer Situation Gewahrsein fehlt. Gewahrsein fehlt auch, wenn man in so einer Situation zwar merkt, dass man zum Beispiel überreagiert, dann aber alles daransetzt, die eigenen Gefühle ‚wegzumachen‘, um sich zu ‚beherrschen‘.
Das Wort „Gewahrsein“ wird ins Englische übersetzt mit „awareness“, wobei der „awareness“ im Wörterbuch „Bewusstsein“ oder „Bewusstheit“ zugeordnet wird. Gewahrsein ist aber weniger als Bewusstsein oder Bewusstheit. Man kann gewahr sein, auch wenn man nicht oder nicht ganz bewusst ist. Gewahrsein befindet sich somit zwischen Wahrnehmung und Bewusstheit: man weiß, dass etwas nur Wahrnehmung ist, ist sich aber noch nicht bewusst über das, was sich hinter der Wahrnehmung verbirgt.
Gewahrsein ist der Schlüssel
Aus dem Wort Gewahrsein lässt sich etwas sehr Nettes machen, was ich Ihnen an dieser Stelle nicht vorenthalten will:
Gewahrsein → Ge-wahr-sein → Geh wahr sein
Ebenso nett: die Vorsilbe ge- kommt aus dem Germanischen und ist von ihrer Bedeutung her verwandt mit der Bedeutung des lateinischen „kon“ oder „com“, wie in “Kontakt” oder “Communitiy”. Kon- oder Com- bedeutet neben, bei oder mit. Ge- geht auf einen ähnlichen Ursprung zurück, der sich aus Zusammensein, Zusammengehörigkeit und Vereinigung ableitet. Daraus ergibt sich für Gewahrsein:
mit dem sein, was wahr ist
eins sein mit dem, was wahr ist.
Das geht ein ganzes Stück über (bloße) Achtsamkeit hinaus. Manche Achtsamkeitsübungen können dennoch hilfreich sein, um zu Gewahrsein zu finden – wenn man sich der Knackpunkte bewusst ist und die jeweiligen Übungen ggf. entsprechend anpasst. Wenn Sie sich die Hintergründe neurosensorischen Trainings erschlossen haben, werden Sie dazu selbst in der Lage sein. Bei Fragen melden Sie sich gern.
Gewahrsein fördert Selbstregulation – Achtsamkeit nicht
In Gewahrsein steckt genau das, was die Selbstregulationsfähigkeit unseres autonomen Nervensystems ermöglicht und fördert: das besagte:
Sei/Geh mit dem, was wahr ist.
Und zwar im Jetzt und Hier. Nicht in den Gedanken, nicht in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft. Sondern in genau diesem Moment. Jetzt. Hier. Durch die Praxis des inneren Spurenlesens baut Ihr Nervensystem entsprechende “Datenautobahnen” aus und fördert auf dieses Weise Ihre Fähigkeit, wirklich präsent zu sein, ohne irgendetwas tun, sich “fokussieren” oder konzentrieren zu müssen. Präsenz geschieht Ihnen – und nur, wenn Sie Ihnen geschieht (geschehen kann), sind Sie präsent.
Präsenz braucht keine Achtsamkeit – nur Gewahrsein
Die Sache mit der Präsenz ist von Bedeutung, weil unser autonomes Nervensystem nicht unterscheiden kann, was jetzt & hier und wo-anders ist. Wissenschaftler schätzen, dass pro Sekunde die kaum vorstellbare Fülle von rund 11 Millionen Sinneseindrücken auf unser Nervensystem einprasselt. Wenn “wir” in diesen 11 Millionen Sinneseindrücken Details entdecken, die uns an frühere Erfahrungen und Geschehnisse erinnern, an Erfahrungen und Geschehnisse von wo-anders, dann erwarten “wir” die Wiederholung der Erfahrungen und Geschehnisse von wo-anders jetzt & hier – dabei ist völlig unerheblich, ob wir uns bewusst an diese Geschehnisse erinnern oder nicht. Stehen die Erfahrungen und Geschehnisse in Zusammenhang mit einst wahrgenommenen oder manifestierten Bedrohungen gleich welcher Art, werden die Organfunktionen (mehr dazu unter Vom Leben & Überleben) in unserem Körper “geregelt wie damals”, ganz egal, ob das jetzt & hier tatsächlich erforderlich ist – wir also wirklich in Gefahr sind – oder nicht. Ihnen muss dafür dafür nicht einmal “etwas Schlimmes” passiert sein. In dem Durcheinander können Sie mit Ihrem Willen, Ihrer Einsicht und Ihrer Entschlossenheit nicht Ordnung machen, weil Sie mit Ihrem Willen, Ihrer Einsicht und Ihrer Entschlossenheit an die entsprechenden Datenautobahnen nicht heranreichen. Ihr autonomes Nervensystem muss selbst Ordnung machen – und das tut es auch, ganz gleich wie durcheinander es im Einzelfall sein mag. Ihr Gewahrsein ist das, was es dafür vor allem anderen braucht. Gewahr zu sein vermittelt Ihnen neurosensorisches Training.