Selbstregulation ist nicht Selbstbeherrschung

Der Begriff der Selbstregulation hat in den letzten Jahren sprichwörtlich in aller Munde gefunden. Er taucht häufig in Zusammenhang mit allerlei Entspannungstechniken auf, wobei vielfach suggeriert wird, dass man – um sich selbst zu regulieren – alles Mögliche tun könne, sollte und müsse, um „zu entspannen“. Weil – so die Suggestion – das ermögliche, nachher auch die „100 Prozent Leistung“ zu bringen, die erforderlich sind, um die hochgesteckten Ziele im perfektionierten Leben zu erreichen. Das spiegelt sich auch in diversen Definitionen wider, die der Begrifflichkeit zugrunde gelegt werden. In der Wikipedia findet sich beispielsweise:

„Selbstregulation ist in der Psychologie ein Sammelbegriff für Fähigkeiten, mit denen Menschen ihre Aufmerksamkeit, Emotionen, Impulse und Handlungen steuern. Gemeinsamer Nenner der Modelle von Selbstregulation und Impulskontrolle in der Psychologie ist, dass Menschen in der Lage sind, eigenes Verhalten im Hinblick auf selbst gesetzte Ziele zu steuern. Dies kann sowohl bewusst als auch unbewusst geschehen. Menschen unterscheiden sich in den Fähigkeiten und im Stil der Selbststeuerung.“

Es wird in dieser und auch anderen Definitionen zwar darauf hingewiesen, dass die Steuerung der Selbstkontrolle „bewusst und unbewusst“ geschehen kann. Unerwähnt bleibt jedoch, dass Selbstregulation in erster Linie autonom erfolgt. Darauf kommt aber nur, wer über die Psychologie hinausblickt und die Biologie in seine Betrachtungen mit einbezieht.

Selbstregulation steuert Verhalten – sichtbar und unsichtbar

Unter Verhalten versteht man in der Biologie alle Aktivitäten und körperlichen Reaktionen eines Menschen oder Tieres, die sich beobachten oder messen lassen. Als Verhalten gilt dabei auch das, was sich messen lässt, aber unsichtbar bleibt und nicht willentlich beeinflusst werden kann: das Verhalten unseres Körpers als eigenständiges, autonomes Wesen, das Dinge tut, die von unserer willentlichen Beeinflussung losgelöst sind. Unser Körper steuert (reguliert) Aufmerksamkeit, Emotionen, Impulse und Handlungen, gleichgültig, ob wir wollen oder nicht und auch völlig egal, ob wir überhaupt etwas davon mitbekommen oder nicht. Dass uns das so leicht entgeht, liegt daran, dass wir so besessen und begeistert von den Fähigkeiten unserer wunderbaren Großhirnrinde sind. Nur allzu leicht vernachlässigen wir jene Fähigkeiten unseres Gehirns, die mit der Großhirnrinde nicht so viel zu tun haben. Über diese Fähigkeiten verfügen schließlich auch Tiere, da werden die schon nicht so überragend sein. Oder?

Systematik des Nervensystems

Die einfache Antwort ist: doch. Und diese Fähigkeiten bestimmen unser Leben und Überleben. Ein Blick auf die Systematik unseres Nervensystems macht es deutlich. Unterteilt ist es in das ‚Zentrale Nervensystem‘ und das ‚Periphere Nervensystem‘. Zu ersterem werden Gehirn und Rückenmark zusammengefasst. Zweiteres eint in sich alles, was – salopp ausgedrückt – nicht Gehirn oder Rückenmark ist. Das Periphere Nervensystem unterteilt sich seinerseits in das somatische (willkürliche) und das vegetative (autonome) Nervensystem. Unter Beanspruchung unseres somatischen bzw. willkürlichen Nervensystems können wir all das tun, was wir willentlich steuern können. Über das vegetative bzw. autonome Nervensystem, läuft alles, was sich unserer willentlichen Beeinflussung entzieht.

Systematik des Nervensystems

Tatsächlich sind es die körperlichen Reaktionen, die aus der Regelung unserer Organfunktionen resultieren – darunter neben Herzschlag, Blutdruck oder Atemfrequenz auch Gefühle, Emotionen und Empfindungen – die das Verhalten bestimmen, das wir an den Tag legen. Je mächtiger ein Gefühl ist und je stärker Aktivierung oder Deaktivierung bestimmter Organfunktionen, desto schwieriger wird es, Verhalten über den Verstand zu kontrollieren. Wer die Hand schon einmal auf der heißen Herdplatte hatte, weiß, dass es einen Bereich gibt, in dem das autonome Nervensystem die Steuerung unseres Verhaltens sogar komplett übernehmen kann – und den Verstand dabei vollständig umgeht. Damit verbunden ist der von der Psychologie verschwiegene Teil von Selbstregulation.

Bis hierhin sind Ihnen die Dinge wahrscheinlich bekannt, und sicher kennen Sie auch die beiden berühmten “Zweige” des vegetativen/autonomen Nervensystems:

Sympathikus & Parasympathikus

Die beiden werden oft als „Gegenspieler“ bezeichnet, weil über den einen (den Sympathikus) ‚Aktivierung‘ und über den anderen (den Parasympathikus) ‚Entspannung‘ herbeigeführt wird. Tatsächlich spielen Sympathikus und Parasympathikus aber fein abgestimmt zusammen. Was der eine aktiviert, regelt der andere herunter und umgekehrt. Beide können aber durchaus auch gleichzeitig bzw. parallel „online“ sein – und sind das auch. Hinzu kommt, dass dieses System kein digitales ist, sondern ein analoges. Es gibt darin nicht nur „An“ und „Aus“ – also nicht nur 0 und 1 – sondern auch alle Zustände, die dazwischen angesiedelt sind. Wenn Sie an die vielen Bruchzahlen denken, die zwischen 0 und 1 liegen – sprichwörtlich dicht an dicht – bekommen Sie eine Vorstellung. Und ja, richtig: eine Vorstellung von Unendlichkeit. Deshalb ist Verhalten so vielgestaltig und von Mensch zu Mensch – wie auch von Tier zu Tier – vollkommen verschieden.

Die “Polyvagal-Theorie”

Was allgemein noch wenig bekannt ist, geht auf eine Entdeckung des US-amerikanischen Neurologen Steven Porges zurück und wird als „Polyvagal-Theorie“ bezeichnet. Der Begriff basiert auf der funktionalen Zweiteilung des Parasympathikus und dem Namen des größten Nervs des Parasympathikus, dem Vagusnerv. Porges hat nachgewiesen, dass sich auch der Parasympathikus nochmal in zwei ‚Zweige‘ unterteilt: einen dorsalen („hinten“ liegenden) und einen ventralen („vorn“ liegenden). „Vorn“ und „hinten“ müssen beim Menschen eher im Sinne von „oben“ und „unten“ verstanden werden, da wir im Gegensatz zu anderen Säugetieren „vertikal“ auf zwei Beinen gehen und nicht „horizontal“ auf vier Beinen. Das ventrale Vagussystem liegt bei uns also „oben“, bei anderen Säugetieren „vorn“ – das dorsale Vagussystem bei uns entsprechend „unten“, bei anderen Säugetieren „hinten“. Getrennt werden die beiden Systeme durch das Zwerchfell. Der Vagusnerv wird auch als „wandernder“ oder „umherschweifender“ Nerv bezeichnet. Er innerviert fast alle unsere Organe. Er ist das, was wir landläufig als unser “Bauchgehirn” oder den Sitz unserer “Intuition” bezeichnen.

Was hat der Vagusnerv nun mit Selbstregulation zu tun?

Über das dorsale Vagussystem entspannen wir ohne Kontakt zu anderen Lebewesen – allerdings auf mehreren Ebenen. Zuoberst befindet sich dabei der berühmte „Rest-an-Digest“ Zustand, in dem Ruhe, Schlaf, Verdauung und Heilung/Erholung stattfinden können. Je tiefer dieser Zustand allerdings wird, desto mehr geht er in Betäubung, Ohnmacht, Koma und schließlich Tod über. Das passiert aber nicht „einfach so“, sondern als autonome Reaktion auf eine individuell für wahr genommene Gefahr für Leib und Leben, der wir uns nicht durch irgendein Verhalten entziehen können. In so einem Fall sind wir sozusagen aus dem Leben hinaus entspannt, was gleichbedeutend ist mit ‚dorsal parasympathisch aktiviert‘, denn das dorsale Vagussystem ist dann aktiv, auch, wenn das unterm Strich bedeutet, dass am „anderen Ende der Richtung“ u.U. der Tod steht. 

Über das ventrale Vagussystem entspannen wir im Kontakt zu anderen Lebewesen, wenn und weil wir uns in ihrer Anwesenheit auf allen Ebenen – bewusst, unbewusst und autonom – sicher fühlen und unsere Lebensenergien nicht in bewusste, unbewusste oder autonome Verteidigungsmaßnahmen investieren. Es ist dies der Zustand, in dem wir uns aufgrund unserer bloßen Existenz wohl und lebendig fühlen, angebunden, angenommen, zugehörig, gesehen etc., ohne dass wir dafür irgendetwas leisten, beweisen, verbergen oder verleugnen müssten. Es ist dies der Zustand, in dem uns unsere Lebensenergien voll und ganz für die Entfaltung des in uns liegenden kreativen Potenzials zur Verfügung stehen. Wir sind in diesem Zustand ins Leben hinein entspannt. Das gilt sowohl dann, wenn wir gleichzeitig ‚sympathisch aktiviert‘ sind – etwa, weil wir mit anderen zusammen aktiv sind – als auch dann, wenn wir gleichzeitig ‚dorsal parasympathisch aktiviert‘ sind – etwa, weil wir etwas genießen, das wir gerade ganz allein und sehr zufrieden damit sind und vielleicht auch etwas nur für uns “tun”, ohne uns anzustrengen (Meditation kann unter bestimmten Umständen so ein Tun sein).

neurosensorisches Training - Rauchschwalbe im Landeanflug

Leben Sie schon oder überleben Sie noch?

Ist vorwiegend das ventrale Vagussystem online, wenn und weil unsere Neurozeption meldet, das alles sicher ist, leben wir. Nur in diesem Zustand – der wie gesagt autonom ist und den wir nicht willentlich herbeiführen können, weil unser (autonomes) Nervensystem unsere Organfunktionen entsprechend regeln muss) – sind wir präsent. Geht das ventrale Vagussystem offline, weil wir eine Situation als unsicher oder gar gefährlich wahrnehmen (ganz gleich, ob das die Wahrheit ist oder nicht), überleben wir gerade nur. Im Überlebensmodus können wir nicht präsent sein – wir können es uns bestenfalls einbilden, was auch vielfach geschieht (mehr dazu lesen Sie in meinem Artikel Wenn Entspannung keine ist).

Dass wir erstaunlich oft nicht viel davon merken, dass wir uns im Überlebensmodus befinden, liegt an dem Betäubungszustand, der mit dorsal-vagaler Aktivität einhergeht. Dieser Zustand wird auch “Freeze-Zustand” genannt, weil das Verhalten und die Fähigkeit, Gefühle zu empfinden, in diesem Zustand “eingefroren” sind. Wir werden deshalb aber nicht unbedingt gleich “ausgeknipst”, wie Tiere im “Totstell-Reflex” (auch, wenn das bei uns durchaus genauso passieren kann). Denn: Ein Freeze-Zustand ist oft “nur” funktional. In einem funktionalen Freeze-Zustand ist es möglich, bis an die äußerste Grenze der individuellen Leistungsfähigkeit zu gehen, ohne von den damit einhergehenden Belastungen und Begleiterscheinungen im Moment allzu viel mitzubekommen. Deswegen gehört auch der Freeze-Zustand zu den Überlebensprogrammen unseres Nervensystems. Wie der Kampf-oder-Flucht-Zustand ist er Ausnahmesituationen vorbehalten und beeinträchtigt einen Organismus nur dann nicht, wenn Ausnahmesituationen selten und zeitlich eng begrenzt sind (max. wenige Minuten) und wenn sich der Organismus nach einer Ausnahmesituation angemessen erholen kann.

Was bei Wildtieren wunderbar funktioniert, gelingt uns Menschen in der Welt, in der wir leben, in sehr vielen Fällen nur unzureichend (über diese Hintergründe lesen Sie mehr in meinem Artikel Trauma ist nicht, was Sie denken). 

Selbstregulation contra Dysregulation

In einem gut selbstregulierten System geht die Erholung schnell – wenn und weil die Neurozeption meldet, dass alles wieder ok ist. Stresshormone werden abgebaut, das Leben geht weiter. In einem schlecht selbstregulierten System – einem dysreguliterten also – sieht das anders aus. Hier setzt keine Erholung ein, die nächste Ausnahmesituation ist schon am Start, und die einzige Entspannung, zu der der Organismus findet, ist der dorsal-vagale Freeze- oder Betäubungszustand.

Allen “Zivilisationskrankheiten”, Posttraumatischen Belastungsstörungen, psychischen Problemen, Beziehungsproblemen, chronischen Erkrankungen, Süchten und Abhängigkeiten, Schul- und Verhaltensproblemen etc. wohnt die Komponente einer unzureichenden Selbstregulationsfähigkeit des autonomen Nervensystems inne. 

Der Einfluss neurosensorischen Trainings auf die Selbstregulation

Mithilfe von neurosensorischem Training kann sich ein dysreguliertes autonomes Nervensystem selbst re-organisieren. Im Rahmen des Trainings werden die wahren (sehr individuellen) Auslöser für Stress identifiziert, bisherige automatisierte Strategien hinterfragt und der Umgang mit Gedanken und Gefühlen transformiert. Das geschieht nicht nur auf der Ebene des Bewusstseins, sondern auch uns gerade auf der Ebene des autonomen Nervensystems. Die Praxis des inneren Spurenlesens führt dabei zum einen dazu, dass im Nervensystem gespeicherte Stressreaktionen (implizite Erinnerungen) “deinstalliert” werden. Zum anderen kann damit verbunden eine autonome Neubewertung von Sinneseindrücken stattfinden. Im Ergebnis führt dies dazu, dass innerhalb des autonomen Nervensystems neue “Datenautobahnen der Selbstregulation” angelegt werden – das Nervensystem findet im Zuge selbst – autonom und automatisch – aus Zuständen der Dysregulation hinaus.