Leben Sie schon oder überleben Sie noch?
Um die “Überlebensprogramme” unseres Nervensystems und die Geschichte vom Leben und Überleben besser verstehen zu können, lohnt sich ein Blick ins Tierreich. Unter Präsenz & Selbstregulation habe ich den sogenannten “Totstell-Reflex” schon einmal erwähnt – hier schauen wir uns das Ganze noch etwas detaillierter an.
Der “Totstell-Reflex” setzt ein, wenn ein Tier nicht mehr flüchten, sich aber auch nicht mehr wehren kann. Die Begrifflichkeit „sich totstellen“ suggeriert, dass sich ein Tier mit Absicht, also willentlich, totstellt, quasi „so tut als ob“. Tatsächlich tut es das nicht – es ist vielmehr das autonome Nervensystem des Tieres, das das regelt, ohne dass das Tier irgendetwas entscheiden könnte.
Wenn Entspannung nur Erstarrung ist
Der Totstell-Reflex ist ein tiefer, dorsal-vagaler Zustand, in dem das Tier vollständig ent-spannt ist. Diese Art der Entspannung geht mit Bewegungsunfähigkeit und einer Betäubung der Sinne und Gefühle einher, deshalb spricht man davon, dass das Tier – bzw. sein gesamtes Verhalten – “erstarrt” ist. Darauf geht auch die englische Bezeichnung für diesen Zustand zurück: “Freeze”, ein Zustand des “eingefroren-seins”. Zu den Überlebensprogrammen gehört dieser Zustand, weil er einerseits gewährleistet, dass das Tier im Fall der Fälle seinen Tod nicht bewusst miterleben muss. Andererseits kann dieser Zustand das Leben retten, denn wer aufhört, sich zu wehren, vermeidet möglicherweise z.B. (noch schlimmere) Verletzungen und/oder kann sich in Sicherheit bringen, wenn der Angreifer etwa gestört wird oder in dem Glauben, seine Beute sei bereits tot, diese für später versteckt.
Das Problem mit dem Funktionieren
Es gibt jedoch nicht nur den “ohnmächtigen Freeze-Zustand”, sondern auch einen (oder richtiger: unendlich viele) funktionale Freeze-Zustände. Wenn Sie des Nachts im Licht der Scheinwerfer Ihres Autos schon einmal erlebt haben, dass z.B. ein Reh auf die Straße lief und dort plötzlich wie angewurzelt stehen blieb, haben Sie einen der “unendlich vielen” Freeze-Zustände beobachtet. Das betroffene Tier ist dann nicht „tot gestellt“, sondern „funktioniert“ noch – es ist innerlich jedoch mehr oder weniger “erstarrt”. Auch funktionale Freeze-Zustände dienen dazu, belastende und überfordernde Situationen bestmöglich zu überleben. Eine mehr oder weniger ausgeprägte Betäubung – “erstarrte Gefühle” – geht auch mit funktionalen Freeze-Zuständen einher.
Da Mensch und Tier – insbesondere Säugetiere – funktional ziemliche gleiche Nervensysteme haben, findet man auch beim Menschen sämtliche Überlebensreaktionen, die sich bei Tieren beobachten lassen, einschließlich “Totstell-Reflex” und funktionaler Freeze-Zustände. Da wir den Blick jedoch zumeist auf die Psychologie lenken, nicht auf die Biologie, entwickeln wir nur schwer ein Bewusstsein dafür. Und: Wir entwickeln kein Bewusstsein für jenen Zustand, der eigentlich unser Normal-Zustand ist – oder sein sollte. Und das ist weder ein Kampf-oder-Flucht-Zustand (auch wenn Arbeitgeber i.d.R. sehr begeistert von “Hochleistung jenseits aller Grenzen” sind), noch ein funktionaler Freeze-Zustand.
“Leben ist das, was passiert, wenn Du überlebt hast“
(frei nach John Lennon)
Wenn Sie beim Joggen schon einmal die Erfahrung gemacht haben, dass das Laufen bis zu einem bestimmten Moment anstrengend war, Sie aber auf einmal feststellten, dass Sie jetzt „bis in alle Ewigkeit“ weiterlaufen könnten, haben Sie einen funktionalen Freeze-Zustand erlebt. Gleiches gilt, wenn Sie den oben angesprochenen „Tunnelblick“ oder den „Blackout“ kennen oder Situationen, in denen Sie leisten und funktionieren, obwohl Sie mit Ihren Kräften am Ende sind.
In einem funktionalen Freeze-Zustand ist es möglich, bis an die äußerste Grenze der individuellen Leistungsfähigkeit zu gehen, ohne von den damit einhergehenden Begleiterscheinungen im Moment allzu viel mitzubekommen – eben weil ein Freeze-Zustand mit einer mehr oder weniger ausgeprägten Betäubung einher geht. Deswegen ist auch ein funktionaler Freeze-Zustand Ausnahmesituationen „vorbehalten“ – er beeinträchtigt einen Organismus nur dann nicht, wenn die Ausnahmesituation zeitlich eng begrenzt ist (wenige Minuten) und wenn sich der Organismus nach der Ausnahmesituation angemessen erholen kann. Was bei Wildtieren wunderbar funktioniert, gelingt uns Menschen in der Welt, in der wir leben, in sehr vielen Fällen nur unzureichend.
Entgegen vieler landläufiger Meinungen ist das Leben kein Überlebenskampf, auch nicht in der Natur oder der “Wildnis”. Überlebensprogramme sollen in Ausnahmesituationen online gehen – sie sollen nicht alltagsbestimmend sein. Tatsächlich ist es sogar so, dass sie nicht alltagsbestimmend sein dürfen, da permanenter Überlebensstress krank macht.
Leben & Überleben: Was ist nun aber unser Normalzustand ?
Unser Normalzustand ist ein ventral-vagaler Entspannungszustand. In diesem Zustand sind wir aber nicht entspannt, weil wir in irgendeiner Weise betäubt oder “ausgeknipst” wären, sondern weil wir uns sicher vielleicht sogar geborgen wähnen. “Wähnen” schreibe ich, weil es nicht in erster Linie unser Verstand ist, mit dem wir eine Situation als sicher oder unsicher bewerten. Die Bewertung, von der hier die Rede ist, findet autonom statt, ohne dass wir den Prozess mit unserem Willen beeinflussen oder steuern könnten. Verantwortlich dafür ist unsere Neurozeption (autonome Wahrnehmung).
Unsere Neurozeption ist dabei nicht immer ganz unvoreingenommen, denn sie greift autonom zur Beurteilung aktueller Situationen auch auf unsere Erinnerungen zurück – und nicht nur unsere bewussten, sondern vor allem solche, von denen wir oft gar nicht wissen, dass wir sie überhaupt haben. So kann es kommen, dass wir in Stress geraten, obwohl gerade überhaupt nichts schlimmes ist oder ‘nur’ etwas, das andere als völlig normal hinnehmen können. Menschen, die z.B. scheinbar grundlose Angstzustände, Panikattacken oder Wutanfälle kennen, die sich fragen, warum sie auf manche Dinge unangemessen reagieren oder sich “zu viel zu sehr zu Herzen nehmen”, haben die “Befangenheit” bzw. Voreingenommenheit ihrer Neurozeption bereits leidvoll in Aktion erlebt.
Vom Überleben ins Leben mit neurosensorischem Training
Mithilfe von neurosensorischem Training lässt sich zum einen die Neurozeption “umprogrammieren”. Zum anderen führt inneres Spurenlesen dazu, dass sich das Nervensystem mehr Selbstregulationsfähigkeit aneignet. Das führt zwar nicht über Nacht, so doch aber im Laufe der Zeit dazu, dass unser ‘System’ autonom – also ohne unser Zutun – zunehmend davon absieht, Überlebensprogramme online zu bringen, wenn das nicht erforderlich ist. Vielen Situationen in unserem Leben entfallen dadurch Momente, die zuvor in unserem Körper Stressreaktionen ausgelöst haben. Unser ‘System’ kommt damit insbesondere aus verborgenen funktionalen Freeze-Zuständen heraus, was entscheidenden Einfluss auf die Art unseres Da-Seins hat – für uns selbst und auch für die, die uns anvertraut sind, speziell unsere Kinder, Lebenspartner und Haustiere.